Deutschland ist 1949 immer noch ein besetztes Land. Der Kalte Krieg ist harte Realität. Noch wird die Versorgung West-Berlins durch die Sowjetunion blockiert. Mit einer gigantischen Luftbrücke erhalten die Westalliierten die Stadt bis zur Aufhebung der Blockade im Mai am Leben. Im Westen wie im Osten laufen dabei die Vorbereitungen für die Gründung der beiden deutschen Teil-Staaten. Im Mai ist es in Bonn soweit, im Oktober in Ost-Berlin. Noch immer bestimmen vor allem Sorgen und Nöte das Leben von “Otto Normalverbraucher” in Ost und West. Der heißt so nach der Einteilung auf den immer noch geltenden Lebensmittelkarten. Die Sehnsucht nach dem kleinen Glück im Alltag wird aber auch erfüllt: 800.000 lebenshungrige Menschen säumten beim ersten Rosenmontagszug in Köln nach dem Krieg die Straßen
13 Millionen Deutsche hatten in den letzten Kriegsmonaten ihre Heimatgebiete verlassen müssen. Jeder fünfte in Deutschland war nach dem Krieg ein Vertriebener. Die Integration der Flüchtlinge wird eine der großen Aufgaben der jungen deutschen Staaten. Aus früheren deutschen Siedlungsgebieten kommen 1950 immer noch Zehntausende deutschstämmige Bürger. Nicht immer sind die Flüchtlinge gerne gesehen - in Ost wie in West. Aufsehen erregt der Kartoffelkäfer-Propaganda-Krieg. Und die westdeutsche Fußball-Nationalmannschaft tritt in diesem Jahr erstmals wieder zu einem Länderspiel an. Einen sportlichen Verlust muss die DDR hinnehmen. Mit der Dresdner Fußballmannschaft verlässt auch der spätere DFB-Bundestrainer Helmut Schön die DDR.
In der Bundesrepublik wie in der DDR wird aufgebaut - Fabriken, Infrastruktur und mit Vorrang Wohnungen etwa für die Bergarbeiter im Ruhrgebiet. In der DDR beginnt der Aufbau des “Eisenhüttenkombinats Ost”. Das Großprojekt soll die Versorgung mit Stahl sichern. Kohle und Stahl spielen auch im Westen eine große Rolle. Dort wird die Montanunion beschlossen. Die Zusammenarbeit bei der Produktion von Kohle und Stahl zwischen Frankreich und Deutschland hat Konsequenzen: Sie ist der Anfang des vereinten Europas und wird ein Motor des westdeutschen Wirtschaftswunders. Die Auseinandersetzungen zwischen Ost und West gehen weiter. Um die Gunst der Jugend wirbt die DDR-Führung mit den Weltfestspielen der Demokratischen Jugend in Ost-Berlin. Tausende erkunden dabei auch den Westteil der Stadt, an der Zonengrenze geht das nicht ohne Rangeleien ab. Den Menschen in beiden Teilen Deutschlands geht es wieder ein bisschen besser. Luxuswaren wie Kaffee bleiben aber Mangelware und sorgen für abenteuerliche Szenen bei der Jagd der Polizei im deutsch-belgischen Grenzgebiet auf die Kaffeeschmuggler. Einen handfesten Skandal verursacht Hildegard Knef. Als Akt-Modell ist die Schauspielerin im Spielfilm “Die Sünderin” für ein paar Sekunden nackt zu sehen - genug um Debatten quer durch die Gesellschaft loszutreten.
Sieben Jahre nach dem Weltkrieg bewegt die Frage nach der Wiederbewaffnung des eigenen Landes die westdeutsche Bevölkerung. Zehntausende gehen auf die Straße - der Widerstand gegen das Vorhaben wird dabei nicht nur von linken oder kommunistischen Gruppen getragen. Bei einer Demonstration in Essen stirbt ein junger Mann durch eine Polizeikugel. Das Besatzungsstatut in der Bundesrepublik wird aufgehoben. Der Preis: die feste Einbindung in das westliche System. Die deutsch-deutsche Grenze wird nun noch sichtbarer: Eine fünf Kilometer breite von der DDR eingerichtete Sperrzone trennt West und Ost. In der DDR wird der “Aufbau des Sozialismus” verkündet. Die Stalin-Allee in Ost-Berlin wird dabei zum Vorzeigeprojekt. Neues in Ost und West gibt es ab dem 1.Weihnachtsfeiertag im nun regelmäßigen Sendebetrieb des West-Fernsehens. Die erste “Tagesschau” lässt nicht lange auf sich warten. Am 2.Weihnachtsfeiertag erreicht sie die wenigen tausend Fernseher, die es in der Bundesrepublik gibt.
Der 500.000. VW-Käfer läuft im Westen vom Band, es geht bergauf. In der DDR produziert der geplante Sozialismus dagegen immer mehr Propaganda, die Menschen spüren den Unterschied zur Realität im Alltag deutlich. Stalins Tod im März weckt Hoffnung auf Veränderungen. Die Bauarbeiter in der Berliner Stalin-Allee demonstrieren für bessere Arbeitsbedingungen und freie Wahlen. Der Aufstand vom 17. Juni wird blutig niedergeschlagen. Im Westen ist im September Bundestagswahl. Große Lust auf den Urnengang haben viele offenbar nicht. Die beliebte Comic-Figur Mecki soll’s richten: Im Werbespot warnt Mecki mit Hitler-Bärtchen drastisch vor der Nichtbeteiligung. Adenauer gewinnt die Wahl. “Der Alte” wird zum zweiten Mal Kanzler.
Es ist nur ein Fußball-Spiel, aber was für eines: Mit 3:2 gewinnt die bundesdeutsche Elf in Bern gegen Ungarn die Weltmeisterschaft. Legendär ist das Tor von Helmut Rahn im Endspiel und legendär die begeisterte Kommentierung von Radio-Reporter Herbert Zimmermann: „Aus, Aus, Aus! Aus. das Spiel ist aus - Deutschland ist Weltmeister”. Das „Wunder von Bern” sorgt für eine Woge von Begeisterung eine neue nationale Identität. In der DDR verzichtet die Sowjetunion neun Jahre nach dem Krieg auf weitere Reparationen und gibt die letzten Fabriken und Betriebe frei, die sie nach Kriegsende in Besitz genommen hatte.. „Aus Werken in Deutschland sind deutsche Werke geworden” - heißt es in der DDR-Wochenschau. Der bislang größte Atomtest der USA lässt unterdessen vor allem im Westen die Angst vor einem Atomkrieg steigen.
Zehn Jahre nach dem Ende des Krieges sind noch immer rund zehntausend deutsche Soldaten in russischer Gefangenschaft. Ihr Schicksal beschäftigt Angehörige und Öffentlichkeit in Ost und West. Im Herbst gelingt es Kanzler Adenauer bei seiner Reise nach Moskau, die Freilassung der Gefangenen bei der russischen Führung durchzusetzen. Adenauers Popularität steigert das noch einmal. Die Bundesrepublik und die Sowjetunion nehmen nach dem Besuch Adenauers diplomatische Beziehung auf. Die von Adenauer so vehement vertretene Bindung an die Westalliierten wird durch die Aufstellung der Bundeswehr endgültig. 40 Stunden diskutiert der Bundestag hitzig über die im Westen Deutschlands heftig umstrittene Wiederbewaffnung. In der DDR beginnt mit der Kasernierten Volkspolizei die Wiederaufrüstung.
Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg grüßen deutsche Soldaten wieder die Flagge ihres Vaterlandes - in West- und in Ostdeutschland. Nach der Gründung der Bundeswehr in der Bundesrepublik lässt die DDR nicht lange auf sich warten. Die bereits vorhandene “Kasernierte Volkspolizei” wird offiziell zur Nationalen Volksarmee. Eine Geheimrede, die schnell weltberühmt werden sollte, beschäftigt die Sowjetunion im Februar. Der Parteichef der KPdSU, Nikita Chruschtschow, spricht offen aus, was viele denken: “Stalin war keine Heldenfigur, sondern ein Diktator”. Hoffnungen auf ein politisches “Tauwetter” machen sich hinter dem eisernen Vorhang breit. Hoffnungen, die in Ungarn in einem Aufstand münden. Tausende Demonstranten fordern uneingeschränkte Freiheit in Kunst, Kultur und Medien. Russland antwortet mit Panzern und Soldaten. Der Ungarn-Aufstand wird durch die Sowjetarmee blutig niedergeschlagen. Aus dem “Tauwetter” wird ein Eiswinter.
Die Bundesrepublik feiert die erste Wiedervereinung. Was mit dem Nachbarn im Osten noch unmöglich scheint, wird an der Westgrenze zur Realität. Das Saarland wird nach über elf Jahren als autonome Region zum zehnten Bundesland. In einer Volksabstimmung hatten sich die Einwohner mit großer Mehrheit für den Beitritt zur Bundesrepublik entschieden. Nicht zuletzt wegen des anhaltenden Wirtschaftswunders. Davon sollen durch die Rentenreform jetzt auch die pensionierten Bundesbürger profitieren. Auch der Osten feiert. Die Sowjets schicken den ersten Satelliten ins All: den Sputnik. Die Russen haben damit die erste Etappe im Rennen um die Vorherschafft im Weltraum gegen die USA gewonnen. Eine Woge der Begeisterung überschwemmt das Land, die auch im VEB-Sachsenring ankommt. Hier wird gerade am ersten “Volkswagen-Ost” gebaut, der in Anlehnung an den Sputnik-Erfolg den Namen “Trabant” bekommt.
“Kampf dem Atomtod” - unter diesem Motto demonstrieren 100.000 Westdeutsche in Hamburg gegen die geplante Atombewaffnung. Die CDU hatte diese im März nach einer langen Debatte und trotz heftigen Widerstandes im Bundestag beschlossen. Die Raketen vom Typ “Nike Herkules” sind bereits bestellt, als die Nato beschließt, dass nur die Westalliierten über Atomwaffen in Westdeutschland verfügen dürfen. Eine ganz andere Debatte beschäftigt die Bauern in der DDR. Nikita Chruschtschow besucht das Land und macht Werbung für den Mais-Anbau. Der Parteichef der KPdSU unterstützt so die SED-Funktionäre, die Kollektivierung der Landwirtschaft voranzutreiben. Viele Bauern wollen sich jedoch nicht vorschreiben lassen, womit sie ihre Felder bestellen und fliehen in den Westen. Im November sorgt der sowjetische Parteichef dann für Aufsehen. Er fordert den Abzug der Westalliierten aus Berlin binnen der nächsten sechs Monate. Doch die sowjetische Drohgebärde verpufft. Die Alliierten beharren auf dem Vier-Mächte-Status Berlins.
Die DDR wünscht sich zum zehnten Geburtstag hauptsächlich eins: Souveränität und Anerkennung. Kein Wunder also, dass der Vierstufen-Plan zur Wiedervereinigung Deutschlands auf der Viermächte-Konferenz in Genf durch die Sowjets abgelehnt wird. Würde er doch das Aus für den Sozialismus in Deutschland bedeuten. Die DDR fordert eine Konföderation beider Staaten. Selbstbewusst zeigt sie ihre neue Flagge mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Auch auf West-Berliner S-Bahnhöfen. Ein Flaggenstreit, der die Fronten zwischen West und Ost zusätzlich erhärten lässt. Ein Prestigeobjekt der DDR-Wirtschaft stürzt ab. Das Düsenflugzeug “152″ verunglückt bei einem Werbeflug für den sowjetischen Parteichef Chruschtschow. Es ist das Ende für den ostdeutschen Flugzeugbau. In Westdeutschland wird das erste Staatsunternehmen privatisiert. Die Preussag geht an die Börse - die erste Volksaktie ist geboren. Ein Modell, das Schule machen wird.
Die Nazizeit bestimmt 1960 die Debatte in der Bundesrepublik. Im Westen wie im Osten fordern Demonstranten den Rücktritt des Vertriebenenministers Theodor Oberländer. Die DDR stellt Oberländer sogar in Abwesenheit vor Gericht. Trotz dessen NS-Vergangenheit hält Kanzler Adenauer zunächst an seinem Minister fest. Bei einem USA-Besuch trifft Adenauer erstmals den israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion. Ein historischer Moment. Adenauer stellt sich der deutschen Vergangenheit - Ben Gurion erkennt an: “Das Deutschland von heute ist nicht mehr das Deutschland von gestern.” In der DDR heißt es “volle Kraft voraus”. Die “MS Völkerfreundschaft”, das erste Kreuzfahrtschiff der DDR, läuft aus. Besonders fleißige Arbeiter und Parteifunktionäre können sich auf eine Reise ins Mittelmeer freuen. Natürlich ohne Klassenunterschied an Board.
Der Wettbewerb zwischen den beiden deutschen Staaten spitzt sich zu. Ost und West kämpfen um die Vorherrschaft im Weltraum. Die Russen haben die Nase vorn und senden den Kosmonauten Juri Gagarin als ersten Menschen ins All. Während die Sowjets feiern, locken Wohlstand und Freiheit immer mehr DDR-Bürger in den Westen. Ein Flüchtlingsstrom fließt durch das Schlupfloch Berlin in die Bundesrepublik. Die DDR-Regierung sieht sich unter Zugzwang. Im Juni behauptet Ulbricht zwar noch: “Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten”, dies stellt sich jedoch als dreiste Lüge heraus. Am 13. August riegeln Soldaten und Betriebskampfgruppen alle Verkehrswege in den Westen ab. Postenketten und Stacheldraht blockieren zunächst den Verkehr zwischen Ost- und West-Berlin. Binnen weniger Tage wird die Mauer errichtet: Die Teilung Deutschlands ist vollendet.
In Hamburg und in Schleswig-Holstein brechen in einer Februarnacht die Deiche. Die Wassermassen der Sturmflut töten mehrere hundert Menschen und richten riesige Schäden an. An der Berliner Mauer stirbt Peter Fechter. Bei dem Versuch die Grenze zu überwinden, wird der 18-jährige Maurerlehrling angeschossen und bleibt schwerverletzt liegen. Weder DDR-Grenzer noch US-Soldaten kommen ihm zur Hilfe. Über eine Stunde dauert es bis endlich seine Leiche geborgen wird. Fechter ist vor den Augen hunderter Deutscher verblutet. Sein Tod wird zum Symbol für die Unmenschlichkeit des SED-Regimes und die Hilflosigkeit des Westens.
Die Bundesrepublik versöhnt sich im Jahr 1963 mit Frankreich. Der scheidende Bundeskanzler Konrad Adenauer reist nach Paris, wo er den deutsch-französischen Vertrag über wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit unterzeichnet. Er ist ein Meilenstein in der Beziehung der zwei Staaten. Im Oktober tritt Adenauer zurück. Im November wird US-Präsident John F. Kennedy Opfer eines Attentats. Ganz Deutschland trauert. Seine Worte: „Ich bin ein Berliner”, die er im Juni hunderttausenden Berlinern vor dem Rathaus Schöneberg zurief, bleiben unvergessen. In Ost wie West wird Mediengeschichte geschrieben. In der DDR wird Frank Beyers „Nackt unter Wölfen” umjubelt. Es ist der erste Spielfilm, der - wenn auch zum Zwecke der DDR-Propaganda idealisiert - das Grauen in einem KZ darstellt. Die ARD fesselt mit der Sportschau unzählige Westbürger vor den Bildschirm. Thema Nummer Eins - die Spiele der neugegründeten Bundesliga. Gleichzeitig bekommt das erste deutsche Fernsehen Konkurrenz. Im April geht das ZDF auf Sendung.
Die Wirtschaft boomt. Im Osten wie im Westen. In der DDR werden 1964 zwei Klassiker geboren: der Trabant 601 und der Plattenbau. Der Bau von “Pappe” und “Platte” sorgt für ein kleines Wirtschaftswunder. Ein Hauch der Veränderung weht durch den Osten, der auch beim Deutschlandtreffen der Jugend zu spüren ist. Erstmals darf auf offener Straße Beatmusik gespielt werden. Auch die West-Wirtschaft ist weiter auf dem Vormarsch. So wird im September bereits der millionste Gastarbeiter begrüßt: Der Portugiese Armando Sa Rodrigues. Drei Jahre nach dem Mauerbau gibt es eine vorsichtige Annäherung zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Nach zähen Verhandlungen wird ein neues Passierscheinabkommen unterzeichnet. Im September dürfen Westbürger endlich wieder ihre Verwandten im Osten besuchen und Wiedersehen feiern.
20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist eine neue Generation herangewachsen. Nicht nur durch ihren Musikgeschmack distanzieren sich die Fans der Rolling Stones oder Beatles im Westen von der Kriegsgeneration. Sie stellen Fragen, protestieren gegen Bundeswehrsoldaten und fordern Aufarbeitung. Die findet im Frankfurter Auschwitzprozess statt. Erstmals stehen ehemalige KZ-Aufseher vor dem Richter. Lebenslängliche und hohe Freiheitsstrafen, sowie zwei Freisprüche sind das Ergebnis. Nach einer langen Debatte wird im Bundestag die Verjährungsfrist von Nazi-Verbrechen verlängert. Dies macht eine weitere Verfolgung von NS-Straftätern möglich. In Israel wird der Amtsantritt des ersten deutschen Botschafters von Protesten begleitet. Waffenlieferungen der Bundesrepublik an Israel sorgen indes dafür, dass die DDR von Ägypten anerkannt wird. Ein Triumph für Ulbricht
Die Starfighter-Affäre weitet sich in der Bundesrepublik zu einem politischen Skandal aus. Im Jahr 1966 kostet der “Witwenmacher”"erneut mehreren Piloten das Leben. Die Bundeswehr hält nach kurzem Startverbot trotzdem an dem umstrittenen Düsenjäger fest. Im Osten sorgt ein ganz anderes Ereignis für einen Skandal. Bereits nach wenigen Vorstellungen wird der Film “Spur der Steine” aufgrund von DDR-kritischen Szenen abgesetzt. Den wahren Grund erfahren die Ostbürger jedoch nicht. Während in der DDR der neue Wartburg 1000 das Straßenbild erobert, hat die Bundesrepublik mit der ersten Rezession zu kämpfen. Kanzler Ludwig Erhard will mit einer Steuererhöhung die Folgen abschwächen und verliert seine Mehrheit. Der Vater des Wirtschaftswunders wird nach nur drei Jahren von Kurt Georg Kiesinger abgelöst. Die erste große Koalition ist geboren.
Westdeutschland im Zeichen der Revolution. In Hamburg demonstrieren die Hippies friedlich wie “Flower-Power” funktioniert. In West-Berlin zeigt die “Kommune 1″, dass politisches Engagement nicht an der Haustür endet. Trauriger Höhepunkt der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung - der Student Benno Ohnesorg wird bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien in Deutschland von einer Polizeikugel getroffen und stirbt. Sein Tod wird zur Geburtsstunde der 68er Bewegung. Eine Katastrophe bewegt die DDR im Juli. Kurz hinter dem Bahnhof Langenweddingen bei Magdeburg rammt der Personen-Schnellzug 852 einen Tanklastwagen. 15.000 Liter Benzin setzen den Zug innerhalb von Sekunden in Flammen. 82 Menschen verlieren ihr Leben, darunter 44 Kinder, die auf dem Weg in ein Ferienlager waren.
Ein Jahr der Reformen und des Aufbruchs, aber auch der Gewalt und Machtdemonstration. Der Prager Frühling macht den Bürgern in der DDR Hoffnungen - auf mehr Demokratie, auf weniger Einschränkungen. Doch schon im Sommer des Jahres wird die Reformbewegung in der Tschechoslowakei blutig niedergeschlagen und die Hoffnung auf Veränderung erstickt. Im Westen machen die Studenten mobil. Die rebellierende Jugend stößt auf Unverständnis. Vor allem ihr Anführer Rudi Dutschke polarisiert. Auch die konservative “Bild”-Zeitung hetzt gegen den Studenten. Am 11.April feuert ein Hilfsarbeiter drei Kugeln auf Dutschke ab. Das Attentat schockiert die Bundesrepublik. Und auch im Kino gibt es eine Reform. Der erste Aufklärungsfilm kommt ins Kino: “Das Wunder der Liebe” von Oswalt Kolle erregt die Gemüter. Trotzdem lockt der Film Millionen Deutsche ins Kino.
Bundeskanzler Willy Brandt schreibt Geschichte. Der SPD-Politiker will sich mit den osteuropäischen Nachbarn aussöhnen. Seine Ostpolitik bringt ihm viele Feinde im konservativen Lager ein. Doch Brandt lässt sich nicht von seinem Kurs abbringen. Im November sinkt bei der Kranzniederlegung vor dem Ehrenmal für die Toten des jüdischen Ghettos in Warschau auf die Knie. Eine Geste der Demut, die weltweit Aufsehen erregt. Eine kleine Revolution spielt sich in deutschen Kindergärten ab. Die Erziehung richtet sich gegen Autorität und Didaktik. Die Kinder sollen sich freier entfalten können. Zu frei für einige Politiker. In West-Berlin wird der Kinderladen „Rote Freiheit” geschlossen, der Familiensenator sieht das geistige und sittliche Wohl der Kinder in Gefahr. Gefahr aus ganz anderer Richtung droht dagegen ganz zu Anfang des Jahres. Eine Grippewelle ungeahnten Ausmaßes erreicht Deutschland. Über 2000 Menschen sterben, in einigen Gebieten sind so viele Beamte krank, dass Soldaten Straßen räumen und Pakete in der Post sortieren müssen.
In der DDR tritt der Staatschef zurück und ein neuer an: Erich Honecker übernimmt das Amt von Walter Ulbricht. Honecker muss sich gleich mit einem großen Problem der sozialistischen Planwirtschaft herumschlagen. Mangel herrscht in der DDR: Zu viel Produkte der Schwerindustrie und zu wenig Konsumgüter werden hergestellt. Das soll sich nun ändern und so müssen die Industriebetriebe, zum Beispiel das Kombinat in Eisenhüttenstadt, Kohlekästen und Kosmetikregale herstellen. „Wir haben abgetrieben” bekennen 300 Frauen im Magazin „Stern” und protestieren damit gegen den Paragraphen 218, der Abtreibung unter Strafe stellt. Ohne Erfolg. Erst drei Jahre später wird eine Reform des Paragraphen durchgesetzt – die aber schon bald vom Bundesverfassungsgericht wieder verworfen wird. Zum Erfolg wird dagegen die Ostpolitik von Kanzler Willy Brandt. Sie bringt deutliche Entspannung im deutsch-deutschen Verhältnis. Ende des Jahres tritt das Transitabkommen in Kraft – das erste auf Regierungsebene geschlossene Abkommen der beiden deutscher Staaten. Der Verkehr zwischen West-Berlin und Westdeutschland kann endlich ungehindert fließen.
Drei wichtige Premieren gibt es sowohl im Osten wie auch im Westen. In der DDR dürfen die Bürger zum ersten Mal ohne Visum nach Polen reisen. Zwischen den sozialistischen Bruderländern soll Normalität einkehren. Die Ostdeutschen entdecken in Polen ungekannte Freiheiten, die Polen begeistern sich vor allem für die Waren in den Konsum-Läden. In der Bundesrepublik will sich das Gastland bei den Olympischen Spielen liberal und weltoffen zeigen. Aber es kommt anders. Ein Terroranschlag erschüttert die Republik. Eine Gruppe Palästinenser erschießt Mitglieder der israelischen Mannschaft und nimmt weitere als Geiseln. Auf dem Münchner Flughafen endet ein Befreiungsversuch blutig. Der internationale Terrorismus hat einen ersten Höhepunkt erreicht. Im Deutschen Bundestag wird erstmals seit Gründung der Bundesrepublik die Vertrauensfrage gestellt. Die konservative Opposition will Bundeskanzler Willy Brandt und die sozialliberale Regierung stürzen. Doch sie scheitert. Bei Neuwahlen stellt sich die Bevölkerung mehrheitlich hinter ihren Kanzler.
Die Delegationen von DDR und Bundesrepublik direkt nebeneinander im Sitzungssaal – ein neues Bild bei der UNO in New York. 1973 werden die beiden deutschen Staaten in die Organisation aufgenommen. Vor allem für die DDR ist das ein großer Schritt. Sie erweitert damit ihren außenpolitischen Spielraum beträchtlich. In der Bundesrepublik macht vor allem eine Krise Schlagzeilen: Das Öl wird knapp, weil arabische Staaten ein Embargo gegen israelfreundliche Länder verhängen. Für einige Sonntage wird ein Fahrverbot erlassen. Auf den Autobahnen sind Pferdegespanne, Fahrradfahrer und Wanderer unterwegs. Die Ölkrise ist der erste wirtschaftliche Einbruch der Bundesrepublik. Im Osten ist 1973 ein aufregendes Jahr für die Jugend. Die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten bringen Millionen Menschen zusammen. “Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft”, lautet das Motto, unter dem sich die DDR offen und liberal präsentieren will. Für viele Jugendliche ist es einfach nur eine wilde Zeit.
Fußball-Fans aus aller Welt kommen nach Deutschland: Zum ersten Mal richtet die Bundesrepublik eine Weltmeisterschaft aus. Und zum ersten Mal tritt auch die DDR-Elf an. Zum deutsch-deutschen Länderspiel in Hamburg dürfen sogar sozialistische Fans anreisen. Die erleben mit, wie ein Tor von Jürgen Sparwasser den West-Kickern eine legendäre Niederlage einbringt. Doch die DDR-Mannschaft scheidet später aus. Die westdeutsche Nationalauswahl dagegen siegt: Deutschland wird im eigenen Land Fußballweltmeister – ein bewegender Moment. Erschütternde Nachrichten kommen dagegen aus dem Bundeskanzleramt. Dort wird ein Spion enttarnt. Günther Guillaume, Sekretär von Willy Brandt, hat diesen jahrelang für die DDR Staatssicherheit ausspioniert. Der beliebte Kanzler gerät immer mehr unter Druck, schließlich stürzt er über diese Affäre. Auf den Straßen bietet sich ein neues Bild: Der Golf löst den VW-Käfer ab – und setzt Maßstäbe für eine Klasse, die bald seinen Namen trägt.
Mit dem ersten Januar 1975 hat die Bundesrepublik schlagartig zwei Millionen erwachsene Einwohner mehr – die Volljährigkeitsgrenze liegt nun nicht mehr bei 21 Jahren, sondern bei 18. Während die jungen Erwachsenen in der Bundesrepublik feiern, müssen die Jugendlichen der DDR arbeiten. Sie bauen in der Ukraine die Druschba-Trasse, über die Erdgas transportiert werden soll. Von Sibirien bis in die DDR soll die Pipeline reichen. Die FDJ erklärt die Trasse zum zentralen Jugendobjekt. Für viele Jugendliche ist der Einsatz trotz der Arbeit einfach nur eine aufregende Zeit. Ein Thema beherrscht die Bundesrepublik ab April: Der Terrorismus. Mit Peter Lorenz wird zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Politiker entführt. Die Terroristen fordern die Freilassung von inhaftierten Gesinnungsgenossen. Die Bundesregierung lässt sich auf den Tauschhandel ein. Danach muss sie sich den Vorwurf gefallen lassen, erpressbar zu sein.
Ein großer Auftritt für eine kleine Biene – auf den Bildschirmen in der Bundesrepublik. Zum ersten Mal flimmern Maja und ihr Freund Willi über die Mattscheiben. Kinderfernsehen ohne jeden Bildungsanspruch. Die Entrüstung bei Pädagogen ist groß – ebenso wie die Resonanz bei den Zuschauern. Kultureller und politischer Mittelpunkt der DDR soll 1976 ein Gebäude werden: Der Palast der Republik. Der sozialistische Staat will sich damit modern, erfolgreich und volksnah präsentieren. Doch ist der Palast auch Sitz der SED-Regierung. Das protzige Gebäude soll so den Sieg des Sozialismus versinnbildlichen. Sozialismus als Weg zur Freiheit erhofft sich der Liedermacher Wolf Biermann in der DDR. Doch seine leise Kritik nimmt die DDR-Regierung zum Anlass, um ihn auszubürgern. Daran nimmt auch SED-Chef Erich Honecker Schaden. Er verspielt seinen Ruf als vorsichtiger Reformer.
Der Terrorismus der Roten Armee Fraktion überschattet im Jahr 1977 in der Bundesrepublik alles. Generalbundesanwalt Siegfried Buback, der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank Jürgen Ponto und der deutsche Arbeitgeberpräsident Hans-Martin Schleyer sowie die sie begleitenden Polizeibeamten und Fahrer werden von im “Deutschen Herbst” von RAF-Terroristen ermordet. Bundeskanzler Helmut Schmidt zeigt sich – anders als noch zwei Jahre zuvor – in den Verhandlungen mit den Terroristen unnachgiebig. Die Bundesregierung gibt nicht nach, auch als die Lufthansa-Maschine Landshut entführt wird. Weit weniger dramatisch ist das Jahr für die DDR. Doch auch dort bahnt sich eine kleine Krise an: Der Kaffee wird knapp. Staatschef Erich Honecker macht den Kaffee zur Chefsache. Ein Kaffeeersatz kommt auf den Markt, der nicht nur schlecht schmeckt, sondern auch Kaffeemaschinen zum Explodieren bringt und so für großen Unmut sorgt.
Der erste Deutsche erobert das Weltall: In einer russischen Raumkapsel umrundet der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn die Erde. Das ist ein Triumph, der von der SED-Führung propagandistisch ausgeschlachtet wird. Doch unabhängig davon feiern zehntausende DDR-Bürger Jähn als ihren Nationalhelden. Schmach dagegen für der Bundesrepublik: Im letzten Zwischenrundenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft im argentinischen Cordoba unterliegt der amtierende Weltmeister Deutschland dem Außenseiter Österreich. Das 2:3 der deutschen Elf gegen das Nachbarland ist unfassbar für beide Seiten. Was in der Bundesrepublik als “Schmach von Cordoba” in die Sportgeschichte eingeht, wird in Österreich als “Wunder von Cordoba” gefeiert. Für die Deutschen in Ost und West endet das Jahr endet mit einer sprichwörtlichen Eiszeit: Über den Norden bricht eine Kältewelle herein. Zehntausende Menschen sind wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Nur mit Hilfe von Panzern der Bundeswehr und Nationalen Volksarmee können sie versorgt werden.
Eisig beginnt das Jahr 1979 – vor allem in der DDR. In einem der kältesten Winter friert die nasse Braunkohle ein. Die Kraftwerke können nicht mehr beliefert werden und die Stromversorgung bricht zusammen. Sogar mit umgebauten Flugzeugtriebwerken versucht die Armee, Kohleförderanlagen wieder aufzutauen. Eiszeit herrscht auch in der Politik. Der kalte Krieg geht mit dem NATO-Doppelbeschluss in seine letzte Phase. Der Westen bietet damit den Ländern des Warschauer Paktes Abrüstungsverhandlungen an. Sollten diese scheitern, legt er die Stationierung US-amerikanischer Raketen in Westeuropa fest. Das Thema beherrscht die Politik das gesamte Jahr lang. In den Medien ist es dagegen die Auseinandersetzung mit den schrecklichen Verbrechen während eines vergangenen Kriegs: Die US-Serie “Holocaust” bringt das Schicksal der Millionen ermordeten Juden auf die Fernsehbildschirme. Im Kino trommelt Oskar Matzerath aus der “Blechtrommel” gegen Nazis an.
Eine neue Zeitrechnung beginnt 1980 – und das ganz wörtlich. Nach 31 Jahren wird die Sommerzeit in Ost und West eingeführt. In Zeiten der Ölkrise soll damit Energie gespart werden. Auch für die westdeutsche Parteienlandschaft beginnt mit diesem Jahr eine neue Zeitrechnung. Denn es ist die – reichlich chaotisch verlaufende – Geburtsstunde der Partei “Die Grünen”. Die selbsternannte Antiparteien-Partei ist nun ein Mitstreiter beim Kampf um Sitze im Bundestag. Das Waldsterben wird parallel auch in den Massenmedien zum Dauerthema. 1980 ist auch das Ende einer Ära – nach fast 200 Jahren betritt ein Papst zum ersten Mal wieder deutschen Boden. Johannes Paul der II. begeistert mit seinem Besuch hunderttausende Deutsche.
Ein Jahr der Proteste: Gegen Kernkraft, gegen das atomare Wettrüsten, gegen die Startbahn West, gegen leer stehende Wohnungen und Spekulation. Im Westen Deutschlands besetzen junge Menschen leerstehende Häuser. Das ist nicht nur politischer Protest, sondern auch eine Rebellion gegen spießige Lebensformen. Keine Zeit für Rebellion haben dagegen diejenigen, die sich mit „Würfelitis” infiziert haben. Die bunten Quadrate des Zauberwürfels faszinieren und beherrschen nicht nur Kinder und Jugendliche. Auch Mathematiker beschäftigen sich mit den schier unendlichen vielen Variationen zur Lösung. Ein deutsch-deutsches Gipfeltreffen im mecklenburgischen Güstrow weckt bei den Ostdeutschen Hoffnungen auf Versöhnung und Annäherung. DDR-Staatschef Erich Honecker schenkt Bundeskanzler Helmut Schmidt ein Bonbon. Eine versöhnliche Geste, der Besuch bringt aber keine nennenswerten Ergebnisse.
Es ist ein Jahr der Wirtschaftskrisen in Ost und West. Während in der DDR die Konsumgüter knapp werden, steigt in der Bundesrepublik die Zahl der Arbeitslosen. Zum ersten Mal seit den fünfziger Jahren erreicht sie zwei Millionen. Die hohe Arbeitslosenzahl ist eine harte Belastungsprobe für die Bundesregierung. Die sozialliberale Koalition ist zerstritten und die Opposition wittert ihre Chance. CDU-Chef Helmut Kohl verspricht eine „geistig-moralische Wende”. Die wünschen sich auch viele Deutsche. Ebenso wie „Ein bisschen Frieden”. Mit diesem Titel siegt die junge Sängerin Nicole beim europäischen Schlagerwettbewerb und trägt die Friedenssehnsucht in Millionen deutsche Haushalte.
Die Angst vor einem neuen Krieg geht in Deutschland um, denn die USA und die Sowjetunion liefern sich einen erbitterten atomaren Rüstungswettlauf. Auch in der Bundesrepublik sollen weitere Raketen stationiert werden. Die Angst vor dem Atomkrieg macht aus einer bisher kleinen Friedensbewegung eine Massenbewegung. Dieser Angst verdanken auch die Grünen ihren Aufstieg zu einer Partei von bundespolitischer Bedeutung. Unter demonstrativem Verstoß gegen die ungeschriebene Kleiderordnung ziehen die Grünen mit Vollbärten und Wollpullis in den Bundestag ein. Für den größten Skandal der deutschen Pressegeschichte sorgt der „Stern”: Das Magazin verkündet den Fund von Hitlers Tagebüchern. Doch die Bücher sind gefälscht. Über neun Millionen D-Mark hatte der “Stern” bezahlt und ist nun blamiert.
Die Ära des Privatfernsehens beginnt. Obwohl anfangs von der Konkurrenz kaum ernst genommen, werden die werbefinanzierten Bewegtbilder schnell zu einem Erfolg. Schlecht dagegen entwickelt sich die Karriere des stellvertretenden Nato-Oberbefehlshabers Günter Kießling. Nachdem ihm homosexuelle Neigungen nachgesagt werden, wird der ranghöchste deutsche General „aus Gründen der nationalen Sicherheit” entlassen. Die Beweise aber fehlen. Verteidigungsminister Manfred Wörner rudert schließlich zurück und rehabilitiert den Bundeswehrgeneral. Die Affäre Kießling ist bis dahin längst ein Politikum. Die wichtigste Entdeckung des Jahres ist die eines aggressiven Krankheitserregers: Das HIV-Virus sorgt für zunehmende öffentliche Hysterie und Übergriffe auf Homosexuelle. Denn sie gelten als Risikogruppe Nummer eins für die Krankheit, die von nun an die weltweiten Schlagzeilen mitbestimmen wird: AIDS. An einem symbolträchtigen Ort reichen sich im September zwei Staatsmänner die Hände: Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident François Mitterand gedenken in Verdun gemeinsam der Toten beider Weltkriege und bekräftigen die deutsch-französische Freundschaft.
Die Umweltverschmutzung wird immer häufiger zum Topthema. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wird im Januar Smogalarm der Stufe III ausgelöst. Im Ruhrgebiet gilt ein Fahrverbot für Privatautos, Schulen bleiben geschlossen, Kraftwerke werden gedrosselt. Feierlaune auf der anderen Seite der deutsch-deutschen Grenze: Mitte Februar wird in Dresden die Semperoper wiedereröffnet, rund 40 Jahre nach den schweren Luftangriffen auf die Stadt an der Elbe. Die Einweihung wird auch über die Grenzen der DDR hinaus zum Medienereignis. Ein solches ist auch der größte Agentenaustausch des Kalten Kriegs, der die Glienicker Brücke zwischen Potsdam und West-Berlin endgültig zu einem Mythos macht. Mehr als 20 Spione des Westens werden gegen vier Kundschafter des Ostens getauscht. Im Sommer sorgt ein 17-jähriger Rotschopf aus Leimen für eine wahre Tennishysterie: Boris Becker gewinnt als erster Deutscher in Wimbledon. Dem sportlichen Stil bleibt auch Joschka Fischer treu, als er hessischer Umweltminister und somit der erste Grüne in einem deutschen Länderkabinett wird: In weißen Turnschuhen legt er den Eid auf die hessische Verfassung ab.
25 Jahre nach dem Mauerbau entsteht die erste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft: Eisenhüttenstadt und Saarlouis wollen sich einander annähern. Der Leiter der Eisenhüttenstädter Verhandlungsdelegation stellt gar Reisemöglichkeiten für Bürger seiner Stadt nach Saarlouis in Aussicht – und sorgt mit der Äußerung für Unmut in der Parteiführung. Anfang April wird auf die West-Berliner Diskothek „La Belle” ein Bombenanschlag verübt. Er gilt US-Soldaten, die sich hier vergnügen. Drei Menschen sterben, 28 werden schwer verletzt. Die Drahtzieher werden in Libyen vermutet. Nur wenige Tage später bombardieren US-Kampfflieger die Hautstadt Tripolis und töten 36 Zivilisten. Ein Atomunfall in der Sowjetunion sorgt für Angst. Im Kernkraftwerk Tschernobyl gibt es eine schwere Explosion in einem der Reaktoren. Erst zwei Tage nach der Katastrophe erfährt die Welt vom Super-GAU. Nicht nur die sowjetische Staatsführung beschwichtigt zunächst, auch die deutsche Regierung betont, es gebe keine Auswirkungen westlich der Oder. Doch wenige Tage nach der Explosion zieht eine riesige radioaktive Wolke über Europa.
KPdSU-Chef Michail Gorbatschow will die Sowjetunion reformieren. Bei einem Treffen des Warschauer Pakts in Ost-Berlin rumort es deswegen hinter den Kulissen. Gorbatschow bringt frischen Wind mit, SED-Chef Honecker fürchtet den Reformeifer seines sowjetischen Besuchs. Berlin wird 750 Jahre alt und bekommt weiteren hohen Besuch: US-Präsident Ronald Reagan appelliert vor dem Brandenburger Tor an Gorbatschow: „Öffnen Sie das Tor, reißen Sie die Mauer nieder!” Später im Jahr besucht Erich Honecker die Bundesrepublik und wird von Helmut Kohl empfangen. Die politischen Differenzen zwischen Gast und Gastgeber sind spürbar. Aber Honecker, gebürtiger Saarländer, besucht nach Jahrzehnten auch seinen Geburtsort Neunkirchen – und lässt sich zu einer überraschenden Äußerung hinreißen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Uwe Barschel bekommt Gegenwind: Björn Engholm fordert als SPD-Spitzenkandidat den CDU-Mann heraus. Dieser engagiert einen dubiosen Medienberater, der das Privatleben Engholms unter die Lupe nehmen soll. Gerüchte werden gestreut. Am Tag vor der Landtagswahl macht der „Spiegel” die Schmutzkampagne öffentlich. Barschel beteuert seine Unschuld, tritt aber schließlich zurück und taucht unter. Journalisten finden ihn im Genfer Hotel „Beau Rivage”: Seine Leiche liegt in der Badewanne von Zimmer 317.
Im August überfallen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski eine Bank in Gladbeck. Sie nehmen zwei Angestellte als Geiseln und fliehen. Es folgt ein Medienspektakel. Die Kriminellen bedienen sich auf ihrer Flucht der Journalisten als Sprachrohr. Nach dem Mord an einem 16-jährigen Jungen endet das Geiseldrama in einem Schusswechsel auf der Autobahn. Im Kugelhagel stirbt eine weitere Geisel. Zehn Tage später wird auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein aus der jährlichen Flugschau eine Katastrophe. Mehr als 300.000 Schaulustige sind dabei, als drei Flieger einer italienischen Formation kollidieren. Eine Feuerwalze aus Trümmern überrollt die Zuschauer. Die Bilanz: 70 Tote und mehr als 1000 Verletzte. In der DDR wird an einem 1-Megabit-Chip getüftelt. Er soll den technologischen Rückstand zum Westen verringern und der maroden Wirtschaft auf die Sprünge helfen. Doch die fingernagelgroße Errungenschaft kann nur in minimaler Stückzahl gefertigt werden, eine rentable Serienproduktion ist nicht in Sicht.
Anfang des Jahres ist SED-Chef Honecker überzeugt, dass die Mauer in 50 oder 100 Jahren noch stehen wird. Im Mai beginnt Ungarn mit dem Abbau von Sperranlagen an der Grenze zu Österreich. In der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag fliehen im September tausende Ostdeutsche über die bundesdeutsche Botschaft in den Westen. Und in der DDR selbst gehen immer mehr Menschen auf die Straße, fordern Reformen. Der erste Erfolg: Die SED-Führung stürzt Erich Honecker. Aber das reicht den Menschen nicht, die Proteste gehen weiter. Schließlich verkündet Günter Schabowski am 9. November auf einer Pressekonferenz: Privatreisen von DDR-Bürgern ins Ausland sind ohne weiteres möglich. Ab sofort. Zehntausende strömen zu den Berliner Grenzübergängen. Die Mauer ist offen. In wenigen Monaten wird sie verschwunden sein.
Im März stellen sich 24 Parteien und Bündnisse zur ersten demokratischen Wahl der DDR-Volkskammer. Mit 48 Prozent siegt die “Allianz für Deutschland”, ein Wahlbündnis aus der ostdeutschen CDU und kleineren konservativen Gruppierungen. Am 1. Juli wird mit der Marktwirtschaft auch in Ostdeutschland die D-Mark eingeführt. Auf Währungspartys feiern die DDR-Bürger das neue Geld, es regnet alte “Alu-Chips”. Und noch ein Grund zum Feiern: Die Nationalmannschaft der Bundesrepublik schlägt Argentinien im WM-Endspiel in Rom. Andreas Brehme verwandelt in der 85. Minute einen Foulelfmeter ins 1:0 – und Deutschland wird Weltmeister. Am 31. August wird der deutsch-deutsche Einigungsvertrag unterzeichnet. Gut einen Monat später ist es soweit: Am 3. Oktober 1990 wird die deutsche Wiedervereinigung vollzogen, die DDR zum “Beitrittsgebiet”.
Nachdem die Partylaune der Einheitsfeiern abgeklungen ist, macht sich bei vielen erste Ernüchterung breit: Die Treuhandanstalt wickelt über 8000 Ost-Betriebe ab. Massenentlassungen sind die Folge. Ende April läuft in Zwickau der letzte Trabi vom Band. Wenig später bekommt Helmut Kohl bei einem Besuch in Sachsen-Anhalt den Frust einiger Neubundesbürger zu spüren: Als er in Halle vor dem Rathaus Hände schüttelt, fliegen Eier und Tomaten auf den gesamtdeutschen Kanzler. Das Herz des wiedervereinigten Deutschland rückt ostwärts: Berlin wird zum künftigen Sitz der Bundesregierung gekürt. Der erste Mauerschützenprozess endet mit Gefängnisstrafen. In der Revision werden diese zur Bewährung ausgesetzt. Der Prozess ist der Anfang einer langen und schwierigen strafrechtlichen Bewältigung der DDR-Vergangenheit.
Jeder Deutsche darf mit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes seine Akte einsehen. Die darin enthaltene Wahrheit ist oft schmerzhaft. In den nächsten Jahren werden millionenfach Anträge auf Überprüfung vermeintlicher IM-Vergangenheiten gestellt. Ende Juli wird der ehemalige DDR-Staatschef Honecker aus der chilenischen Botschaft in Moskau nach Deutschland ausgeliefert. Im November beginnt der Prozess gegen Honecker wegen des Schießbefehls an der innerdeutschen Grenze. Rechtsradikale randalieren tagelang vor der Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen. Als Molotow-Cocktails fliegen, können sich mehr als 100 Menschen erst im letzten Moment aus dem brennenden Haus retten. Fremdenfeindlichkeit auch in Westdeutschland: In Mölln werfen Rechtsradikale Brandsätze in zwei von Türken bewohnte Häuser. Drei Menschen sterben, darunter zwei Kinder. Hunderttausende demonstrieren danach gegen den rechten Terror.
Stellvertretend für ein ganzes System sitzt Erich Honecker auf der Anklagebank. Im Januar aber wird das Verfahren gegen den früheren DDR-Staatschef eingestellt. Honecker ist an Leberkrebs erkrankt, eine Fortsetzung des Verfahrens laut Gericht ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Der 80-Jährige verlässt Deutschland und reist nach Chile, wo seine Tochter lebt. In Dortmund gehen Zehntausende für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze auf die Straße. Durch die Fusion der Stahlriesen Krupp und Hoesch stehen 30.000 Jobs auf dem Spiel. Ein ähnliches Bild gibt es im Osten der Republik: Das Kaliwerk im thüringischen Bischofferode soll schließen – die Kumpel wehren sich, besetzen ihre Grube und treten in einen Hungerstreik. In Bad Kleinen misslingt ein Einsatz der GSG 9. Das Spezialeinsatzkommando will RAF-Terroristen festnehmen. Doch statt einem kontrolliertem Zugriff gibt es eine wilde Schießerei auf dem Bahnhof der Stadt. Am Ende sind ein Terrorist und ein Polizist tot. Das Desaster wird zum Polizeiskandal.
Ein Unternehmer nutzt den Bauboom Ost für zweifelhafte Geschäfte: Dr. Jürgen Schneider sichert sich Vorzeige-Immobilien und lässt sie aufwändig sanieren. Die Banken geben großzügig Kredit. Doch Schneider ist längst pleite und hat Schulden in Milliardenhöhe. Ende August verlassen die letzten Sowjetsoldaten nach fast fünf Jahrzehnten Ostdeutschland. Wenige Tage später ziehen auch die Truppen der drei westlichen Siegermächte aus Berlin ab: Mit Volksfest-Paraden verabschieden sich Franzosen, Engländer und Amerikaner von der Bevölkerung. Und schließlich wird ein Deutscher zum ersten Mal Formel-1-Weltmeister. Michael Schumacher fährt ein turbulentes Rennen, seine Heimatstadt Kerpen steht Kopf. Schumachers Triumph bringt ganz Deutschland in Fahrt – auch an den Kassen: Seine Fanartikel sind der Renner im Weihnachtsgeschäft.
Das Schengener Abkommen tritt in Kraft. Zwischen Deutschland, Frankreich, den Benelux-Staaten, Portugal und Spanien entfallen die Grenzkontrollen. Innerhalb des Schengen-Gebiets entstehen “Grüne Grenzen”, die “Außengrenzen” werden verstärkt gesichert. Der erste Castor-Transport ist unterwegs. In den Castor-Sicherheitsbehältern ist hochradioaktiver Atommüll, der in das atomare Zwischenlager im niedersächsischen Gorbleben gebracht werden soll. Anwohner und Atomkraftgegner versuchen, den Transport zu blockieren. Seit fast 20 Jahren leisten ortsansässige Bauern und Aktivisten der Anti-Atomkraft-Bewegung Widerstand gegen das Zwischenlager. In Bayern geraten traditionelle Gewohnheiten ins Wanken. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass Kruzifixe in Unterrichtsräumen staatlicher Schulen abgehängt werden müssen. Der Staat dürfe nicht mit einem solchen Symbol eine bestimmte Religion herausheben, so die Richter. Aber nur dort, wo geklagt wird, fliegt das Kreuz aus dem Klassenraum – und auch dort nur vorübergehend.
Ein Großbrand im Düsseldorfer Flughafen fordert 17 Menschenleben. Die Ermittlungen ergeben schwere Sicherheitsmängel: Sprinkleranlagen fehlen ebenso wie Notausgänge. Die Düsseldorfer Flughafen AG wird nach der Katastrophe zu 20 Millionen Mark Schadensersatz verurteilt. Deutschland steht im Finale der Fußballeuropameisterschaft. Der Gegner ist Tschechien. Oliver Bierhoff schießt seine Elf zum Titel, Deutschland ist Europameister. Doch dieses erste deutsche “Golden Goal” wird auch das letzte sein. Flankiert von einer beispiellosen Werbekampagne wird die T-Aktie auf den Markt geworfen. Der Telekom bringt ihr Börsengang auf einen Schlag zehn Milliarden Mark. Die T-Aktie wird für viele Deutsche zur Einstiegsdroge in den Aktienhandel. Doch es gibt ein böses Erwachen, als der so genannte neue Markt zusammenbricht.
Den Deutschen pfeift der raue Wind der Globalisierung um die Ohren. Immer mehr Unternehmen verlagern ihre Produktion ins Ausland. Deutschland braucht Reformen – und Bundespräsident Herzog mahnt sie an: Sein Appell geht als “Ruck-Rede” in die Geschichte ein. Nach tagelangen Regenfällen schwellen Oder und Neiße an. Aus Polen und Tschechien schiebt sich eine Flutwelle in Richtung Deutschland. Eine einzigartige Hilfsaktion läuft an. 30.000 Bundeswehrsoldaten sind im Einsatz, mit Millionen Sandsäcken werden die Deiche verstärkt. Aber zwei von ihnen brechen. 170 Häuser und 77.000 Hektar Ackerland stehen im Osten Brandenburgs unter Wasser. Mit der A-Klasse will Mercedes neue Maßstäbe setzen. Doch das innovative Design versagt beim “Elchtest”. Mercedes investiert Millionen, um das Auto kippsicher zu machen. Bis es soweit ist, lacht die Welt über Deutschlands renommiertesten Autobauer.
Nahe Eschede in Niedersachsen kommt es zu dem bisher schwersten Zugunglück in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein ICE-Hochgeschwindigkeitszug entgleist bei Tempo 200 und zerschellt an einer Brücke. Am Unfallort bietet sich ein Bild des Grauens. 101 Menschen werden getötet oder so schwer verletzt, dass sie später sterben. Nach 16 Jahren im Amt wird Helmut Kohl von einem Sozialdemokraten abgelöst: Gerhard Schröder wird Bundeskanzler und bildet eine Regierung aus einer Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die eine neue politische Kultur in Deutschland verkörpern und umsetzen will. Ein anderer nennt die Dinge beim Namen, und doch können ihn nur wenige wirklich verstehen: Bayern-Trainer Giovanni Trapattoni schimpft sich auf einer legendären Pressekonferenz in die Herzen vieler Deutscher – und sorgt für geflügelte Worte, die seither oft bemüht werden: Ich habe fertig!
Kaum an der Regierung gerät die SPD in Schwierigkeiten. Oskar Lafontaine tritt als Finanzminister und SPD-Chef zurück. Über seine Gründe schweigt er zunächst. Die nächste Belastungsprobe für die Koalition aus SPD und Grünen folgt sofort. Seit Jahren tobt auf dem Balkan ein brutaler Bürgerkrieg. Im Frühling starten Tornados der Bundeswehr zum ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihr Angriff ist Teil der Nato-Offensive gegen das Milosovic-Regime. Die Reaktionen in den Parteien und der Bevölkerung über den Einsatz sind geteilt. Vor allem die Grünen sind tief zerstritten über die deutsche Beteiligung. Im Kinderkanal gehen ganz neuartige Figuren auf Sendung: die “Teletubbies”. Eltern und Pädagogen diskutieren, ob die grellbunten Figuren irgendwie lehrreich sind oder einfach nur doof. Die Zielgruppe diskutiert nicht. Für Kinder sind die “Teletubbies” die neuen Kultpuppen. Und das Jahr bietet Anlass zum Schlangestehen: für einen guten Platz bei der letzten totalen Sonnenfinsternis des Jahrtausends, für eine Hochzeit am Schnapszahl-Datum und für Partys zum symbolträchtigen Jahreswechsel 1999. Das neue Jahrtausend kann kommen.
Die Spendenaffäre der CDU sorgt täglich für neue Enthüllungen. Noch Ende 1999 musste Helmut Kohl zugeben, dass er jahrelang illegal Spenden angenommen hatte. Mit seinem Sturz beginnt der Aufstieg von Angela Merkel. Die CDU wählt sie mit 96 Prozent der Stimmen zur neuen Vorsitzenden. Angst in der Agrarwirtschaft: Der erste BSE-Fall wird in Deutschland festgestellt. Alle Rinder des betroffenen Bauern werden getötet. Ein leerer Stall und ein Land unter Schock: Der “Rinderwahnsinn” ist in Deutschland angekommen. Im Fernsehen wird ein ganz anderer Wahnsinn gestartet: Die Käfig-Show “Big Brother” geht auf Sendung. 100 Tage lang lassen sich zehn Kandidaten freiwillig einsperren und von 28 Kameras in fast jeder Lebenssituation beobachten. Millionen Menschen schauen zu, wie sich andere blamieren, streiten, küssen und zu Medienstars werden.
Drei Reformprojekte der rot-grünen Koalition nehmen Gestalt an: Es gibt neue Standards für die Massentierhaltung, der langfristige Atomausstieg wird besiegelt und Homosexuelle können ihre Lebenspartnerschaft erstmals gesetzlich eintragen lassen. Staatlich ist Homosexualität damit weitestgehend akzeptiert – gesellschaftlich noch nicht. Es gibt Andeutungen über den SPD-Spitzenkandidaten zur Berliner Bürgermeisterwahl. Der geht in die Offensive und spricht den Satz des Jahres. “Ich bin schwul und das ist auch gut so!” Das Bekenntnis schadet nicht: Klaus Wowereit wird in Berlin zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Ein Datum lässt dann aber alles in den Hintergrund treten: der 11. September. Auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Washington werden verheerende Anschläge verübt. Fast 3000 Menschen kommen ums Leben. Die westliche Welt ist geschockt. Und schon unmittelbar nach den Anschlägen ist klar: Eine Spur führt nach Deutschland.
Der Jahresanfang bringt den Euro: In Deutschland und elf weiteren EU-Staaten ist die europäische Währung ab jetzt einziges gesetzliches Zahlungsmittel. Das Ende der D-Mark ist für die meisten Deutschen ein Abschied ohne Wehmut, doch nicht wenige vermissen sie schon ein paar Jahre später. Im Frühling richtet ein ehemaliger Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium ein Blutbad an. Der Amokläufer erschießt 16 Menschen und anschließend sich selbst. In der Konsequenz beginnt eine gesellschaftliche Diskussion über die Ursachen. Das Waffengesetz wird verschärft. Die nächste Schreckensnachricht lässt nicht lange auf sich warten: Die größte Flutkatastrophe seit Jahrzehnten sorgt in den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg für Verwüstungen. 21 Menschen kommen ums Leben. Die Schäden durch die Fluten gehen in die Milliarden. Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist groß. 300 Millionen Euro Spenden werden gesammelt.
Das Jahr bringt wieder eine Neuerung – diesmal das Dosenpfand. In der Theorie ist das einfach, in der Praxis wesentlich komplizierter: Einzelhändler weigern sich, “fremdgekaufte” Dosen zurückzunehmen. Nicht wenige Kunden monieren das Durcheinander im Pfandsystem. Bundeskanzler Schröder stellt im Frühjahr die “Agenda 2010″ vor – sein Plan für eine radikale Reform des Sozialstaats. Davon muss er zunächst auch die eigene Partei überzeugen. Die Debatte um das Reformkonzept droht die SPD zu zerreißen. Die Autobahn-Maut für Lkw soll Geld in die Kassen des Verkehrsministeriums spülen – mit einem komplizierten Erfassungssystem. Doch schon die Testphase startet wenig erfolgversprechend: Spediteure klagen über Lieferengpässe der notwendigen Geräte für die Lkw, die Technik ist störanfällig. Die Einführung der Maut wird um zwei Jahre verschoben.
Die EU erfährt ihre bisher größte Erweiterung. Unter den neuen Mitgliedern sind vor allem osteuropäische Länder. Deutschlands Grenzen zu den östlichen Nachbarn Polen und Tschechien werden durchlässiger. In Düsseldorf stehen ehemalige Mannesmann-Manager vor Gericht. Sie sollen rechtswidrig Prämien in Millionenhöhe erhalten oder genehmigt haben – und werden freigesprochen. Doch ein Schnappschuss, der den Chef der Deutschen Bank in Siegerpose zeigt, löst eine Debatte über die Arroganz von Managern aus. In Dresden ist der äußere Wiederaufbau der 1945 zerstörten Frauenkirche abgeschlossen. Ein anderer historischer Kulturschatz aber geht zu großen Teilen verloren: Die Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek steht in Flammen. Zehntausende wertvolle Bücher werden zerstört, etwa genauso viele können geborgen und restauriert werden.
Die junge Türkin Hatun Sürücü wird in Berlin von ihrem eigenen Bruder getötet. Sein Motiv: die Familienehre. Er missbilligt den Lebensstil der jungen Frau, die das Kopftuch abgelegt und wie eine Deutsche gelebt hatte. Der Begriff “Ehrenmord” wird zum Diskussionsthema in Politik und Gesellschaft. Der wichtigste und umstrittenste Teil der Sozialreform tritt in Kraft: Die Änderungen beim Arbeitslosengeld und der Sozialhilfe, die unter dem Namen Hartz IV bekannt werden. „Fördern und Fordern“ heißt das Prinzip. Die Reform ist hastig und mangelhaft vorbereitet, der Start verläuft miserabel. Bundeskanzler Schröder riskiert nach dem andauernden Richtungsstreit in der SPD und im rot-grünen Bündnis vorgezogene Bundestagswahlen – und scheitert. Angela Merkel wird die Kanzlerin einer Koalition aus Union und SPD.
Die Vogelgrippe ist in Deutschland angekommen. Stallpflicht und die Tötungen betroffener Geflügelbestände sollen die Ausbreitung des Virus verhindern. In sieben Bundesländer wird die Vogelgrippe festgestellt, zehntausende Tiere werden getötet. Der Sommer wird zum Festival: Die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland sorgt für positive Schlagzeilen, die Welt ist “zu Gast bei Freunden”. Die deutsche Nationalelf schafft es bis ins Halbfinale, scheitert aber gegen Italien. Trauer über den undankbaren dritten Platz, aber das Gesamtbild des “Sommermärchens” wird dadurch nicht getrübt. Der Bundestag beschließt endgültig den Abriss des „Palastes der Republik“. Der asbestverseuchte Palast war ein Wahrzeichen der DDR. An seiner Stelle soll das von der DDR-Führung 1950 gesprengte Berliner Schloss wieder aufgebaut werden.
Ein kleiner Eisbär rührt die Gemüter. Knut wurde von seiner Mutter verstoßen und wächst jetzt vor laufenden Kameras auf. Die Bilder von ihm und seinem Pfleger gehen um die ganze Welt und sorgen für einen Ansturm im Berliner Zoo. In Heiligendamm treffen sich die Staatschefs der sieben führenden Industrieländer und Russlands zum Weltwirtschaftsgipfel. Gastgeberin ist Angela Merkel, die aus dem Treffen auch einen Klimagipfel machen will. Klimaschützer und Globalisierungsgegner sind skeptisch, es gibt Demos und spektakuläre Polizeiaktionen. Im Herbst wollen sich die Lokführer mit dem bisher größten Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn wollen mehr Lohn erkämpfen. Nach dem Güterverkehr stehen auch Personenzüge. Der Konflikt dauert Monate, viele Reisenden sind genervt.
Der Jahresbeginn bringt einen Einbruch an der Frankfurter Börse. Zusammenhänge mit einer Immobilien- und Finanzkrise in den USA deuten sich an. Böse Vorahnungen für den Verlauf des Jahres kommen auf. In der SPD rumort es unterdessen. Die Umfragewerte sinken stetig. In Hessen will die SPD den langjährigen CDU-Ministerpräsidenten Koch stürzen. Nach der Landtagswahl gibt es eine Pattsituation. Hoffnung für die SPD: eine rot-grüne Regierung mit Tolerierung der Linken. Wäre da nicht ein Wahlversprechen, das Andrea Ypsilanti einst gab – und das sie jetzt zu brechen droht. Im Herbst beginnt dann das, was später zum Wort des Jahres gekürt wird: die Finanzkrise. Eine der wichtigsten Banken der Welt, die Lehman Brothers, kommt ins Straucheln. Auch deutsche Banken stehen mit dem Haus in Verbindung. Der Beginn eines Dominoeffekts, der sich quer durch die gesamt Weltwirtschaft ziehen wird.