Homers Odysseus musste den Herausforderungen einer neuen Zeit genügen. Der Dichter schrieb sein Epos zu Beginn der großen griechischen Kolonisation im 8. Jahrhundert vor Christus nieder. Die Griechen entdeckten den weiten Westen des Mittelmeers, Italien, Sizilien, Frankreich und Spanien. Sie wagten sich vor ins Unbekannte, litten Entbehrungen, machten Erfahrungen mit Naturkatastrophen, mit freundlich wie feindlich gesinnten Völkern. In dieser neuen Welt gründeten sie blühende Kolonien, die bald reicher und schöner waren als die Heimatorte der griechischen Seefahrer. Homer schrieb die Blaupause für diese expandierende Bewegung. Odysseus stattete er mit idealtypischen Eigenschaften aus: Er ertrug widrige Umstände und Schmerz, er verfügte über Intelligenz und Mut. Er lernte aus seinen Fehlern. Opportunistisch setzte er auch Lüge, List, Tücke ein, um seine Ziele zu erreichen. Homers Zeitgenossen sollten in ihm die Züge eines echten Anführers erkennen. Einen historischen Odysseus hat es wohl nie gegeben, so die Meinung der meisten Wissenschaftler. Schon die angebliche Heimat des mythischen Helden – die Ionische Insel Ithaka – ist unter Forschern strittig. Hinweise in der Odyssee sprechen eher für die größte der Ionischen Inseln, Kefalonia. Sensationell war die Entdeckung des größten Kuppelgrabes Westgriechenlands, in dem eindeutig Könige bestattet wurden. Ein Fundstück aus diesem Grab zeigt eine Abbildung, die in der Odyssee eine Entsprechung zu finden scheint. Möglicherweise steckt in der "Odyssee" Homers doch mehr geschichtliche Wahrheit als angenommen. Davon sind auch Wissenschaftler mehr und mehr überzeugt.
Das Beowulf-Epos gilt als eines der bedeutendsten und einflussreichsten Werke der englischen Literatur. Eine Geschichte über Heldenmut und Monster, die alle Elemente eines modernen Action-Stoffs in sich vereint. Der englische Literaturprofessor J.R.R. Tolkien war so fasziniert von diesem Heldengedicht, das er es als Inspiration für seinen "Herrn der Ringe" nutzte. Die Geschichte Beowulfs beginnt im 6. Jahrhundert in Dänemark, im Reich König Hrothgars. Die fröhlichen Feiern seiner Männer in der prunkvollen Festhalle Heorot wecken den Unmut eines blutrünstigen Trolls, der in den naheliegenden Sumpfgebieten haust. Zwölf Jahre hält das Monster das Land fest in seinem Griff, tötet alle Krieger. Keiner wagt es, sich ihm entgegenzustellen – bis Beowulf eintrifft, der junge, selbstbewusste Krieger vom Volk der Gauten. Er befreit das Reich vom schrecklichen Scheusal Grendel. Doch auch sein Leben wird Jahre später eine traurige Wendung nehmen. Das Beowulf-Epos wurde in einer Umbruchszeit geschrieben. Ab dem 5. Jahrhundert wanderten germanische Angeln, Sachsen und Jüten in Britannien ein. Nachdem die Römer abgezogen waren, herrschte dort für lange Zeit ein Machtvakuum. Die Neuankömmlinge gründeten eigene Königreiche. Auch wenn sie Christen wurden, blieben sie ihrer heidnischen Kultur und ihren Mythen verbunden. Dänische, englische und deutsche Wissenschaftler ordnen den historischen Kontext ein und zeichnen ein lebendiges Bild des Lebens und der Glaubenswelt der Angelsachsen. Das Beowulf-Epos ist eine Heldengeschichte, die auch nach über tausend Jahren nichts von ihrer Kraft verloren hat.
Wolfram von Eschenbachs Roman über den "tumben Tor" Parzival, der unter allen Umständen Ritter von König Artus und seiner Tafelrunde werden wollte, gilt als Literaturschlager seiner Entstehungszeit. Mit fast 25.000 Versen ist der "Parzival" das längste deutsche Erzählwerk dieser Epoche und mit über hundert Abschriften auch eines der beliebtesten im Mittelalter. Das liegt vor allem an den Themen, die Wolfram von Eschenbach ansprach: Es geht um ritterliche Ideale, verwoben mit christlichen Tugenden – um weltliche und religiöse Lebensfragen. Der naive Adlige, der nichts von höfischen Sitten und ritterlichen Idealen weiß und sie erst mühsam erlernen muss, wird nach harten Prüfungen schließlich zum Hoffnungsträger: Er soll eine Welt aus Gewalt und Leid erlösen und christliche Ideale erneuern. Seine Suche nach dem Heiligen Gral ist zugleich die Suche nach einem gottgefälligen Leben, ohne der Welt zu entsagen. Die Geschichte Wolframs spiegelt die Ordnung in Europa um 1200 wider, mit all ihren Vorstellungen, Tugenden und Werten, aber auch Fehden, Konflikten, Kriegen. In einer Zeit des Umbruchs ist der Roman nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen jener Epoche, sondern auch die Suche nach einem neuen Selbstverständnis des Ritterstands. Die Kreuzzüge im fernen Orient, der Thronstreit im eigenen Land und das Aufstreben der Ritterorden bilden den Hintergrund, vor dem Parzival seinen Weg zu Gott finden muss, um christlichen Begriffen wie Liebe und Hoffnung neuen Sinn zu verleihen.